Über Details in der Kunst mit Wieteke van Zeil

Wieteke van Zeil, Foto: Jean-Pierre Jans

Kürzlich ist das Buch „Sieh hin! Ein offener Blick auf die Kunst“ der niederländischen Kunsthistorikerin Wieteke van Zeil bei uns erschienen. Gefeiert haben wir dies mit einer Buchpräsentation im Museum der bildenden Künste Leipzig, bei der uns Wieteke in ihre Methode des Kunstbetrachtens einführte und uns ihre Liebe zu Kunstdetails anhand zweier Werke näherbrachte. Wir waren und sind nachhaltig begeistert und beeindruckt von Wietekes Art und Weise, uns für Details in der Kunst zu sensibilisieren! Erfrischend und enthusiastisch erklärt sie uns nicht nur persönlich, sondern auch im Buch, wie wir die Welt mit anderen Augen sehen können. In 42 inspirierenden Geschichten richtet sie den Blick auf vermeintliche Nebensächlichkeiten in der Malerei. Daher war es klar, dass wir ihr einige Fragen zu ihrer Arbeit und ihrem Buch stellen wollten.

Wieteke, möchtest du uns ein wenig über dich erzählen?

Hallo, mein Name ist Wieteke van Zeil, ich bin Kunsthistorikerin, lebe in Amsterdam und arbeite für die überregionale Zeitung de Volkskrant als Kulturjournalistin. Nachdem ich für mehrere Museen gearbeitet habe und einige Jahre als Kunstkritikerin tätig war, schreibe ich jetzt über das Betrachten von Kunst in meiner Serie Oog for Detail, die im Wochenendmagazin der Zeitung veröffentlicht wird. In Kunstwerken gibt es immer etwas zu entdecken, und oft können diese Dinge mit unserem gegenwärtigen Leben in Verbindung gebracht werden, daher schreibe ich über die Freude am Erleben von Kunst. Daneben schreibe ich auch Essays über kulturelle Trends und neue Perspektiven. Letztes Jahr hatte ich die Gelegenheit, eine Fernsehsendung über Kunst und Emotionen zu machen, die zeigt, wie Künstler aller Zeiten Emotionen ausgedrückt haben, die wir alle kennen, wie Wut, Liebe und Ekel. Ich liebe die visuelle Kultur – auch Mode, Grafikdesign, Filme usw. -, weil ich glaube, dass sie unser Leben interessanter und in Zeiten der Tragödie auch erträglicher macht.

An einer Stelle in deinem Buch „Sieh hin!“ deutest du an, dass die Schönheit und die Nuancen in der Kunst für dich auch eine Art Zuflucht vor dem Hässlichen in der Welt sind. Was hat deine Leidenschaft für die Kunst ausgelöst?

Manchmal kann sich der Genuss eines Kunstwerks wirklich wie eine Flucht anfühlen. Wie ein Lied, das einen glücklich macht, auch wenn die Dinge schwierig sind. Und manchmal scheint es so, als ob ein Kunstwerk unsere tiefsten Gefühle anspricht, selbst wenn es Hunderte von Jahren alt ist. Kunst ist ein so wesentlicher Bestandteil des Menschseins.

Meine Leidenschaft für Kunst begann in der Schule. Ich bin nicht mit Eltern aufgewachsen, die mich ins Museum mitgenommen haben (später war ich diejenige, die sie in Museen mitgenommen hat), daher weiß ich, wie wichtig es ist, durch Bildung und Medien mit Kunst vertraut zu werden. Für mich war der erste Funke meine Liebe zu Hip-Hop-Musik im Teenageralter. Hip-Hop feiert das Leben und ist gleichzeitig oft sehr sozialbewusst und engagiert. Die Hip-Hop-Kultur ist auch visuell, und so lernte ich Graffiti und Keith Haring und seinen lustigen Stil kennen, aber auch das Bewusstsein, das er für die AIDS-Epidemie weckte. Danach begann ich, mir Gemälde anzuschauen, besuchte weitere Museen und beschloss, Kunstgeschichte zu studieren.

Wieteke an ihrem Arbeitsplatz

Warum bist du so besessen von Details in der Kunst? Erinnerst du dich an ein bestimmtes Detail, das deine Sicht auf die Welt völlig verändert hat?

Mein Interesse an Details begann, als ich merkte, dass es schwierig wurde, sich zu konzentrieren. Es gibt ständig so viele Informationen, die auf uns einprasseln. Auch wenn man in einem Museum ist, ist es manchmal einfach zu viel. Ich werde leicht visuell überladen.

Ein kleines Detail kann der perfekte „Einstieg“ sein, um die Aufmerksamkeit zu wecken und ein Kunstwerk kennen zu lernen. Details sind oft so sorgfältig gemacht, witzig und intelligent, und sie können so berührend sein. Vielleicht ist die Geschichte eines Gemäldes anfangs schwierig, aber es gibt immer ein Detail, mit dem man sich identifizieren kann. Ich habe angefangen, meine Lieblingsdetails zu fotografieren, und jetzt ist es meine Lieblingsart, Kunst zu betrachten. Oftmals hilft mir ein Detail, das Ganze besser zu verstehen oder zu sehen.

Ich habe viele Lieblingsdetails! Wenn ich eines nennen kann, denke ich oft an den kleinen, ungepflegten Hund auf dem berühmten Gemälde Le Balcon von Eduard Manet. Auf dem Gemälde sind drei gut gekleidete Menschen zu sehen, die interessiert nach draußen schauen. Es ist bemerkenswert, wie isoliert sie voneinander sind und wie passiv und gelangweilt sie zu sein scheinen. Die einzige wirkliche Bewegung geht von dem kleinen Hund aus, den ich erst beim dritten Hinsehen entdeckt habe! Der Hund befindet sich hinter den grünen Gitterstäben des Balkons, neben ihm liegt ein Ball, und er scheint geradezu begierig auf Action und Spaß zu sein. Er ist der Einzige, der versucht, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass alle auf diesem Balkon gefangen sind. Die Menschen sind so losgelöst von der Welt. Es ist fast so, als ob die Anwesenheit des Hundes die wahren Gefühle offenbart, die die Menschen nicht ausdrücken können. Manet muss Spaß daran gehabt haben, diesen kleinen Racker zu malen.

Einige der Gemälde der alten Meister, über die du sprichst, sind viele Jahrhunderte alt. Warum glaubst du, dass sie für unser modernes Leben von Bedeutung sein können?

Etwas, das ein Künstler vor langer Zeit, manchmal sogar vor Jahrtausenden, geschaffen hat, kann uns das Gefühl geben, dass es uns heute persönlich anspricht. Das ist meiner Meinung nach eine der stärksten Seiten der Kunst. Egal aus welcher Zeit oder Kultur, Kunstwerke zeigen uns wichtige Aspekte des Menschseins: Liebe, Angst, Freude, Eifersucht, Hoffnung, Spaß, Einsamkeit, Trauer, Rache, Verlangen. Dies in einem Kunstwerk oder einem Detail zu erkennen, bedeutet, sich in dem, was wir sind und worum es im Leben geht, bestätigt zu fühlen. Es ist magisch.

Wieteke van Zeil vor Neo Rauchs Gemälde im Museum der bildenden Künste Leipzig

Was ist neu an deinem Ansatz und warum ist es dir so wichtig, dass wir lernen, Kunst auf eine andere Weise zu betrachten?

Ich denke, einer der Gründe ist, dass ich wirklich glaube, dass Kunst für jeden etwas ist. Sie ist nichts, was man nur genießen kann, wenn man ein gewisses Maß an intellektuellem Wissen hat oder mit Eltern aufgewachsen ist, die einen in Museen mitgenommen haben. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen hatten die Menschen Spaß daran, Dinge zu schaffen, die Schönheit und Emotionen ausdrücken und die uns etwas darüber sagen, wer wir sind. Die Herstellung materieller Dinge, um mit anderen in Verbindung zu treten, auch mit Menschen, die nach uns leben, macht uns zu Menschen.

Dann ist das Betrachten von Details ein einfacher Weg, um gut zu beobachten, es hilft, den Blick zu schärfen. Gerade in der heutigen Zeit der Informationsüberflutung kann das Betrachten von Kunstdetails unseren Sinn für Aufmerksamkeit verbessern. Bei meinem Ansatz geht es um die Freude am Beobachten und darum, neugierig zu bleiben, um Dinge zu entdecken, die man vorher nicht wusste.

Warum sollten wir öfter ins Museum gehen? Und: Hast du einen Geheimtipp aus einem deiner Lieblingsmuseen, nach dem wir Ausschau halten sollten?

Das Gute am Erleben von Kunst ist, dass es den Kopf frei macht; wir betrachten Kunst (oder genießen Musik) nicht, um Punkte zu machen, ein Ziel zu erreichen oder mehr Geld zu verdienen. Ein Museumsbesuch ist in gewisser Weise eine Form von Spiel. Man weiß, dass man neue Dinge sehen wird, man kann sie im Kopf durchspielen, und es gibt ein gewisses Maß an „Erwartung des Unerwarteten“, das es spannend und lohnend macht. In einem Museum oder Theater ist mehr Platz für Gefühle als im Supermarkt oder am Arbeitsplatz.

Insider-Tipp: Zwei Museen, die ich liebe, weil sie dafür gemacht sind, dass man einen bereichernden Tag erlebt, wenn man sie besucht: Die Carslberg Glyptothek in Kopenhagen (mit Palmen unter einem Glasdach in der Mitte des Museums!) und in den Niederlanden das Museum Voorlinden in Wassenaar, ein Museum mit viel Licht und einem umliegenden Skulpturenpark. Beide Museen sind nicht zu groß, so dass man nicht mit Informationen überflutet wird – perfekt für einen schönen Tag.

Unsere Lektorin Nora mit Wieteke van Zeil bei ihrer Buchpräsentation im Museum der bildenden Künste, Leipzig

Du hast dir eine Reihe sehr praktischer Tipps ausgedacht, die uns helfen können, die Kunst und auch die Welt um uns herum mit mehr Achtsamkeit zu betrachten. Welcher deiner Tipps ist besonders einfach und effizient?

Für mich wurde alles einfacher, als ich erkannte, dass man nicht alles wissen und sehen muss. Sei wählerisch – manchmal reicht es, nur einige wenige Kunstwerke zu betrachten – und dein Museumsbesuch wird so viel lohnender, einprägsamer und macht viel mehr Spaß. Das funktioniert auch in anderen Bereichen des Lebens. 😉

In deinem Buch interviewst du auch eine Reihe sehr interessanter Menschen über ihre eigene Art des Sehens. Bemerkenswerterweise ist keiner von ihnen Teil der Kunstwelt. Was ist das Besondere an ihrer „Außenseiterperspektive“?

Als ich begann, dieses Buch über die Qualität von Fokus und Aufmerksamkeit beim Betrachten von Kunst zu schreiben, wurde mir klar, dass es eine starke Parallele zu Menschen mit unterschiedlichen Fachkenntnissen gibt. In manchen Berufen ist es wichtig, ein Auge für Details zu haben und Details zu verbinden, um das Ganze zu verstehen. Um zu zeigen, wie das funktioniert, habe ich andere Fachleute – wie einen Kinderarzt, einen Festivalorganisator, einen Fluglotsen und einen Polizisten – gefragt, welche Bedeutung das Verstehen von Details für ihre Arbeit hat. Sie gaben wunderbare Beispiele, wie Gerrit Hiemstra, unser nationaler Wetterfrosch im Fernsehen, der uns zeigte, wie wir vergessen, „den Himmel zu lesen“. Wir sind so abhängig von Apps und Technik, dass wir in den Wolken nicht sehen können, ob Regen kommt. Dies ist ein Beispiel für den Verlust des Blicks für Details, den alle Menschen früher hatten.

Zu Wieteke van Zeils Instagram Account: @artpophistory

Zum Buch

English Version of the interview