Streifzüge durch Paris: Die Seele des Kinos entdecken

C. Siebert mit ihrem neu erschienenen Kulturreiseführer

Christine Siebert mit ihrem neu erschienenen Kulturreiseführer

Im April erschien bei uns das Buch „Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastischen Spaziergängen der Journalistin, Autorin und  Filmregisseurin Christine Siebert. Sie entführt die Leser:innen auf spannende Entdeckungstouren durch die Stadt des Films, spaziert über bekannte Straßen oder sucht nach beinahe vergessenen Kultorten des Kinos. Anregende und informative Spaziergänge – nicht nur für Filmfans ein absolutes Muss! Wir haben Christine Siebert über ihre Leidenschaft für Paris, den Film und über die Entstehung des Buches befragt.

Möchten Sie sich kurz vorstellen?

Meine Leidenschaft ist das Schreiben und ich habe verschiedene Reiseführer, Kurzgeschichten und auch einen Roman veröffentlicht (unter dem Pseudonym Christina Talberg). Ich liebe es, in komplexe Themen einzutauchen und die verschiedenen Facetten und Hintergründe zu erzählen: auch im Radio. Ich war lange Redakteurin und Reporterin bei Radio France Internationale, dem französischen Auslandsradio, habe dann aber beschlossen, wieder als Freelancerin zu arbeiten, aus einem einfachen Grund: Ich möchte die nötige Sendezeit zur Verfügung haben, um diesen Themen gerecht zu werden. Keine kurzen Formate mehr!

Bei Radio France Internationale war ich für Umwelt und Klima zuständig, und ich interessiere mich auch sehr für Kolumbien, aus privaten Gründen. Diese beiden Themen verarbeite ich in einem Roman, an dem ich gerade schreibe. Ja, und Kino war schon immer meine Leidenschaft! Seit ich in Paris wohne, genieße ich es, dass man wirklich jeden Tag in einen anderen Film gehen kann, solch eine Auswahl gibt es […]. Ich habe vor kurzem auch selbst eine Filmschule besucht und dort eine Ausbildung zur Filmregisseurin gemacht. Im Moment bereite ich ein Filmprojekt über kolumbianische Bauern vor. Sie werden immer wieder bedroht und von diesem Land vertrieben, auf das so viele es abgesehen haben, weil es Bodenschätze wie Erdöl, Kohle oder Gold birgt, und weil es sich für Agrobusiness oder Koka-Anbau eignet. Bauern, die sich weigern zu gehen, werden in Kolumbien kurzerhand ermordet, ebenso Umwelt-Aktivisten und Menschenrechtskämpfer. Das ist kein isolierter Fakt, sondern kommt fast täglich vor. Ich finde es unfassbar, dass darüber so wenig berichtet wird! Es scheint niemanden zu stören. Ich denke, vielleicht könnte ein Film etwas bewirken. Im Grunde hat mich das zum Film gebracht: der Wunsch, auf diese Situation aufmerksam zu machen. […] Für das Buch „Paris und das Kino“ habe ich mir unzählige Filme angesehen, und habe mich durch so viele Stimmungszonen und Stilrichtungen bewegt! Das war toll! Und natürlich auch, durch die Stadt Paris zu spazieren, und all diese spannenden Leute kennenzulernen, die mir Pariser Filmgeschichte erzählt und ihre Kinoleidenschaft mit mir geteilt haben.

Verraten Sie uns Ihre drei Lieblingsfilme, die im Buch vorkommen?

„Tatis herrliche Zeiten“ von Jacques Tati, mit den wunderbar minimalistischen Gags. Tati macht sich über absurde technologische Errungenschaften lustig. […]  Tati ist sowieso nicht für Lärm, sondern für leise, aber eindringliche Töne: da ist zum Beispiel ein Kunstledersessel, der quietscht, ächzt und  stöhnt, als sei er lebendig. Kann sein, dass ich als Radiofrau besonders für Tatis originellen Sound empfänglich bin.

Ich bin auch Fan von Cédric Klapisch. In seinen Filmen spielt Paris immer eine Hauptrolle, und er versteht es wie kaum einer, die Seele eines Stadtviertels einzufangen. Das Bastille-Viertel ist Thema von „… und jeder sucht sein Kätzchen“. Nur wenige Berufsschauspieler wirken bei diesem Film mit, die meisten Protagonisten sind Bewohner des Viertels und spielen sich selbst: [u.a.] die alte Madame Renée mit den wild gemusterten 50er-Jahre-Blusen […]. Klapisch geht den alten Spuren von Paris nach und entdeckt nebenbei die neuen hippen Läden, die im Viertel bei der Bastille aufmachen. Und er zeigt, wie seine Heldin Chloé (Garance Clavel) nach und nach die Ureinwohner des Quartiers entdeckt und sich mit ihnen identifiziert.

Und ich liebe die Filme von Agnès Jaoui, ihren feinen Humor, die witzigen Dialoge. In „Unter  dem Regenbogen – Ein Frühjahr in Paris“ läuft Jean-Pierre Bacri zu Hochform auf. Jaoui und Bacri waren lange im wirklichen Leben ein Paar und bis zu Bacris Tod 2021 eng verbunden im Film: als Schauspieler, Drehbuchschreiber und gegenseitige Musen. Und in diesem Film spielt Bacri einmal mehr diese Rolle, in der er glänzt: einen verdrossenen, aber dennoch rührenden einsamen Kerl namens Pierre, der das Publikum trotz allem zum Lachen bringt. Einmal sitzt er einem Arzt gegenüber und erzählt von seinen Seelennöten. Doch dann stellt sich heraus: der Arzt ist ein Podologe! Ein Fußarzt! Zum Schieflachen!

C. Siebert auf dem Place de la Bastille

Welcher Pariser Drehort hat Sie besonders fasziniert?

Ich finde die Restaurants faszinierend. Da sitzt man im Bouillon Chartier, gleich neben dem Pariser Wachsfigurenkabinett, dem Grévin Museum, und sagt sich, dass vielleicht Romy Schneider schon auf diesem Stuhl gesessen hat. Sie hat dort mehrere Szenen ihres letzten Films „Die Spaziergängerin von Sans Souci“ gedreht. Das Bouillon Chartier ist so ein Restaurant für einfache Leute, wo man ein hartgekochtes Ei mit Mayonnaise für 2 Euro bestellen kann – und im Film besucht Romy Schneider als Elsa Wiener dieses Restaurant, eben weil man dort billig satt wird… Der Film spielt zu einem großen Teil in den 30er und 40er Jahren, und Elsa Wiener ist mit ihrem jüdischen Adoptivsohn nach Paris ausgewandert und muss sich dort durchschlagen.

Unzählige Restaurants sind in dieser Stadt Filmdekor. Woody Allen dreht z.B. liebend gern in Pariser Gourmet-Tempeln. Im eleganten Maxim’s und im wunderschönen Polidor geht sein Held Gil in „Midnight in Paris“ auf Zeitreise. Auch das ist eine interessante Vorstellung: dass Woody Allen hier aktiv war. Allerdings muss man für diese Kategorie von Restaurants etwas tiefer in die Tasche greifen.

Welches ist Ihr Lieblingskino?

Da ist einerseits das legendäre Flair: der Filmpalast Le Grand Rex, das Kino Le Louxor, das einem ägyptischen Tempel nachempfunden ist, historische Programmkinos wie das Cinéma du Panthéon oder das Chaplin Saint Lambert, andererseits ist da ein modernes, aber auch sehr atmosphärisches Kino, das MK2 Quai de Seine / Quai de Loire am Bassin der La Villette. Ich liebe es, wie sich die bunten Lichter im Wasser spiegeln, wenn man aus der Filmvorführung kommt.

C. Siebert vor dem Kino MK2 Bastille

Könnten Sie sich vorstellen, wieder außerhalb von Paris zu leben oder vertreten Sie dieselbe Meinung wie Adriana in Midnight in Paris: „Dass es Paris gibt und sich jemand entscheiden könnte, irgendwo anders auf der Welt zu leben, wird mir immer ein Rätsel bleiben“?

Paris ist so ein Ort, an den ich immer wieder gerne zurückkehre, wenn ich auf Reisen war. Paris ist sehr vielfältig, jedes Stadtviertel hat seine ganz eigene Atmosphäre, das eine ist glitzernd-elegant, das andere still romantisch, wieder eines bunt und multikulti. Es gibt immer wieder noch etwas zu entdecken: alternative Kulturkneipen, wildromantische kleine Parks… Mir gefällt auch, dass Paris so kosmopolitisch ist: ob Philosophie-Kolloquium über die Umbrüche in Lateinamerika oder finnischer Kulturabend, es gibt hier alles, von überall.

Auch wenn ich mir vorstellen kann, mal ein paar Monate hier und dort zu leben (vielleicht mal in Kolumbien?), so werde ich doch nie ganz aus Paris weggehen. Natürlich auch, weil ich in Paris wunderbare Freundinnen und Freunde habe!

Ihre Begeisterung für Filmkunst veranlasste Sie dazu, sich als Filmregisseurin ausbilden zu lassen. Inwiefern beeinflussten sich das Buch und Ihre Ausbildung gegenseitig?

Die Idee zum Buch ist entstand, als ich gerade meine Abschlussarbeit geschrieben habe. Ich habe mir gesagt: das wäre doch wunderbar, wenn ich alles, was ich jetzt über Paris-Filme, über die verschiedenen Bewegungen der Filmgeschichte, über Stil und Machart gelernt habe, in einem Buch erzählen könnte!

C. Siebert an ihrem Arbeitsplatz

C. Siebert an ihrem Arbeitsplatz

Sie treffen während Ihrer Spaziergänge auf verschiedenste Menschen und Film-Kenner. Welches Gespräch ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Mir fällt spontan ein Trio ein. Zuerst hat mir Franck Vernin großzügig die Türen des Filmpalastes Le Grand Rex geöffnet und mich bis in den hintersten Winkel der Kulissen geführt. Er ist ein wandelndes Filmlexikon, er weiß alles, nicht nur über die Geschichte des Grand Rex, sondern über Filmgeschichte überhaupt. Und er sagte mir: „Sie müssen unbedingt Thierry Béné kennen lernen, auch ein absoluter Filmnarr!“ Und so war es: Thierry Béné hat mich stundenlang im Champs-Elysées-Viertel herumgeführt, er weiß alles über die Pariser Kinogeschichte […]. Thierry Béné hat mich wiederum mit Nasser De Ruhere bekannt gemacht: der arbeitet als Filmprojektionist in dem wunderbaren Art-Deko-Programmkino Chaplin Saint Lambert und hat sich an seinem freien Vormittag dort mit mir getroffen, um mir alles über die Geschichte dieses Kinos und über die Lage der kleinen, unabhängigen Pariser Kinos zu erzählen. Auch er ein hundertprozentiger Film- und Kinonarr! Solch passionierte Menschen begeistern mich.

Und schließlich ist mir noch eine Begegnung besonders in Erinnerung geblieben: der Spaziergang mit Pierre-Simon Gutman durch Saint-Germain-des-Prés und das Quartier Latin. Der Filmwissenschaftler war einer meiner Professoren an der Filmschule. Und bei diesem Gespräch hat er mit die Nouvelle Vague als eine Bewegung vorgestellt, die auf das damals politisch linke Frankreich und all die kollektiven Initiativen reagierte: Mit Forderungen nach Individualismus, mit Lust an flotten Autos und Genuss, also mit einem Anspruch, der auf eine gewisse Weise politisch rechts war. Nicht konservativ, aber eben dandyhaft. Die Nouvelle Vague, eine rechte Bewegung? So hatte ich das nie gesehen. Ein interessanter Gedanke. Spätestens ab 1968 kam dann der Umbruch, und auch die Nouvelle-Vague-Regisseure engagierten sich links.

C. Siebert im Quartier Latin, im Hintergrund der Metro-Eingang

Was war Ihre größte Herausforderung bei der Arbeit am Buch?

Dass ich „nur“ 224 Seiten zur Verfügung hatte. Je mehr ich erzählte, desto mehr gab es zu erzählen! … Nein, aber im Ernst: auf 224 Seiten lässt sich auch schon vieles berichten! Und das Buch muss ja auch ins Reisegepäck passen 🙂