Wieteke van Zeil: Wie Kunst unser Denken bereichert

Wieteke van Zeil. Autorin von "Sieh mehr!"

Wieteke van Zeil: „Das ist es also, was ich praktiziere: den ersten Eindruck ignorieren, das Urteil innehalten und offen bleiben für das, was mir das Kunstwerk sagen will.“ (Foto: Nina Schollardt)

Vor kurzem ist das zweite Buch der niederländischen Kulturjournalistin und Kunsthistorikerin Wieteke van Zeil bei uns erschienen. Im Vorgängerband „Sieh hin!“ hat uns Wieteke beigebracht, Kunst aufmerksam und mit einem offenen Blick zu betrachten. In ihrem neuen Buch „Sieh mehr!“ zeigt sie, wie wir nicht nur genauer hinsehen können, sondern wie uns Kunst außerdem neue Sichtweisen eröffnet. Sie bringt uns bei, wie wir unseren Blick schärfen, indem wir mit den Details beginnen. Wir haben Wieteke nach ihrem Wahrnehmen von Kunst, ihrem Lieblingsdetail aus dem neuen Buch und Kunst in unserer Gesellschaft befragt.

In der Einleitung sprichst du davon, dass wir Menschen daran gewöhnt sind, immer sofort eine Meinung zu haben. Das trifft selbstverständlich auch auf den Bereich der Kunst zu. Gelingt es dir beim Betrachten eines Kunstwerks deine eigene Meinung immer zurückstellen, um dem Kunstwerk die Chance des „sich Entfaltens“ zu geben?

Das ist eine gute Frage. Die einfache Antwort lautet: Ich wünschte, ich könnte es! Aber der erste Eindruck bleibt sozusagen im Kopf hängen. Ein erstes Urteil geht unserem Denken voraus. Ich wusste das nicht, bevor ich mehr über die Psychologie dahinter las, aber das ist der Grund, warum wir einfach nicht in der Lage sind, nicht zu urteilen. Die Dinge, die wir beobachten, rufen ein vorschnelles Urteil hervor – wir mögen es oder nicht, wir fühlen uns wohl damit oder nicht, usw. Das hat, wie Verhaltenspsycholog:innen erklären, mit unserem Reptiliengehirn zu tun: Sind wir in Sicherheit oder nicht? Sollten wir kämpfen oder weglaufen?

Das Interessante daran ist, dass diese vorschnellen Urteile nicht auf neuen Informationen, sondern ausschließlich auf früheren Erfahrungen beruhen. Im Grunde genommen lassen wir die Dinge, die wir sehen noch nicht in unseren Verstand eindringen. Als mir das klar wurde, wusste ich, dass dies bei der Betrachtung von Kunst niemals sinnvoll ist. Denn wenn wir ein Kunstwerk betrachten, sehen wir meistens etwas, das wir vorher nicht gesehen haben. Es braucht buchstäblich Zeit, bis man das zu schätzen weiß und sich ein Urteil darüber bilden kann. Das ist es also, was ich praktiziere: den ersten Eindruck ignorieren, das Urteil innehalten und offen bleiben für das, was mir das Kunstwerk sagen will.

Das Buch enthält neben den kürzeren Kunstbetrachtungen auch verschiedene Essays. Im zweiten Essay stehen weibliche Künstlerinnen im Mittelpunkt. „Wir beurteilen Frauen anders als Männer“ ist die zweite These dieses Textes. Stimmt das? Erwischst du dich selbst dabei?

Leider, ja. Denn es handelt sich nicht um einen persönlichen Fehler, den wir einfach in einer Minute beheben können. Es ist Teil eines kulturellen Systems. Die Forschung hat gezeigt, dass wir die gleichen Fähigkeiten bei Männern anders einschätzen als bei Frauen. Wenn zum Beispiel ein Mann für etwas plädiert, hören wir ihm besser zu als einer Frau, die für dasselbe eintritt. Wir neigen auch dazu, sein Plädoyer als überzeugend zu bewerten, während das gleiche Plädoyer und der gleiche Tonfall einer Frau als rechthaberisch oder aufdringlich gewertet werden können. Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass es in der Kunst eine große Diskrepanz in der Wertschätzung zwischen männlichen und weiblichen Künstler:innen gibt.

Im Jahr 2017 zeigte eine internationale Forschergruppe einer großen, heterogenen Personengruppe verschiedene Gemälde. Zu jedem Bild wurde der Name einer Künstlerin oder eines Künstlers notiert. Die große Mehrheit der Betrachter, Männer und Frauen, schätzte die Werke von Künstler:innen mit männlichen Namen besser ein als die, denen weibliche Namen zugeschrieben waren. Es gab kaum einen Unterschied in der Beurteilung zwischen männlichen und weiblichen Betrachter:innen, beide Gruppen schätzten die „männlichen“ Werke viel mehr. Aber die Sache ist die: Die Namen waren Fälschungen. Alle erfunden. Es ist also alles eine Frage der Wahrnehmung. Was das Publikum als von einer Frau gemalt wahrnahm, bewertete es als minderwertiger als die Werke, von denen es dachte, sie seien von Männern gemalt worden. Das zeigt, wie tief diese Kluft in unserer unbewussten Art, Männer und Frauen in der Kunstwelt zu schätzen, verwurzelt ist.

In meinem Essay versuche ich herauszufinden, warum es so viele Jahre gedauert hat, bis ich als Kunsthistorikerin auf diese Kluft zwischen den Geschlechtern aufmerksam wurde, und warum es kaum echte Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter in der Kunstwelt gibt. Immerhin wurde die Öffentlichkeit schon früher darauf aufmerksam gemacht, dank feministischer Kunsthistorikerinnen Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts. Und dennoch machten weibliche Künstlerinnen auch 2019 nur 2 Prozent des weltweiten Kunstmarktes aus, wie Julia Halperin und Charlotte Burns in ihrer Untersuchung für das Magazin ArtNet zeigten.

Für die deutsche Ausgabe ist „Wie Kunst unser Denken bereichert“ der Untertitel von „Sieh mehr!“.  Denkst du, dass uns die Kunst anderseits auch manipulieren kann?

Das ist eine interessante Frage. Kunst kann einen großen Einfluss auf  Betrachter:innen haben, und sie hat mich in vielerlei Hinsicht beeinflusst: meine Gefühle, meine Art zu denken und mein Wissen. Aber Manipulation ist mehr als Beeinflussung, Manipulation ist auch der Versuch, etwas oder jemanden auf clevere und geschickte Weise zu kontrollieren. Trotz einiger Geschichten aus der griechischen Mythologie, wie Pygmalion, der von der von ihm geschaffenen Skulptur besessen war, glaube ich nicht, dass Kunst Menschen kontrollieren kann. Es gibt immer eine Freiheit im Erleben von Kunst.

Deine Kunstbetrachtungen entstehen ja zum großen Teil für deine Kolumne in der niederländischen Tageszeitung de Volkskrant. Inwiefern beeinflussen aktuelle gesellschaftliche Fragen deine Auswahl von Kunstwerken, die du dort besprichst?

Zweifellos läuft ein unbewusster Prozess ab, wenn ich meine Details auswähle. Zum Beispiel, wenn ich viel über die Unterdrückung der Frauenrechte im Iran lese, oder wenn die Proteste von Black Lives Matter so intensiv waren, oder die Flüchtlingskrise. Ich glaube, weil mich diese Dinge beschäftigen, haben sie manchmal einen Einfluss auf die Wahl eines Details oder einer Perspektive beim Schreiben. Man findet unbewusst Parallelen in der Kunst, oder die von Künstler:innen dargestellten Emotionen können einen bewegen und Gedanken über dringende Themen hervorrufen. Andererseits hat die Kunst die schöne Eigenschaft, sich über die Zeit und das Tagesgeschehen zu erheben. Sie lädt uns dazu ein, das menschliche Verhalten und die Vorstellungskraft in einem größeren Rahmen zu betrachten. Sie kann sich sehr persönlich anfühlen, als ob sie nur für einen selbst gemalt oder geschrieben wurde, und gleichzeitig hat sie diesen bleibenden Wert über Generationen und Kulturen hinweg.

Hast du von all den Kunstwerken aus dem neuen Buch ein Lieblingsdetail?

Sie sind so unvergleichlich, da sie aus verschiedenen Zeiten und Kulturen stammen und sich in Material und Stil unterscheiden. Ich kann eines nennen, das mich sehr bewegt hat. Es gibt viele moderne Details in dem Buch, aber dieses ist es nicht. Es ist ein unglaublich intimes Detail aus einem Manuskript aus dem 16. Jahrhundert, das im damaligen Persien (heute Iran) verfasst wurde. Vieles in diesem Werk war mir neu: das epische persische Liebesgedicht, auf dem es basiert, die Tatsache, dass zwei Männer intim miteinander umgehen (einer kämmt dem anderen das lange Haar), eine Szene aus dem 16. Jahrhundert mit badenden Männern und die Tatsache, dass intime Beziehungen zwischen Männern in der persischen Literatur durchaus üblich waren.

Was mich jedoch überraschte, war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich etwas sah, das wir in der westlichen Kunst, selbst im Film und in unserem täglichen Leben, eigentlich nie zu sehen bekommen: ein Mann, der einem anderen Mann die Haare kämmt. Das ist eine so zarte, stille Interaktion. Die westliche Kunst ist voll von kämmenden Frauen; Mütter, die die Haare ihrer Kinder kämmen, Schwestern, die sich gegenseitig die Haare kämmen. Oft liegt eine erotische Stimmung zugrunde. Mir wurde klar, dass ich diese Art von sanfter Intimität zwischen Männern nicht kenne, und das brachte mich zum Nachdenken darüber, was in unserer Gesellschaft als normal oder nicht normal gilt.

Betrachtest du zeitgenössische Kunst, Performance und Fotografie anders als die alten Meister?

In gewisser Weise, ja. Denn unterschiedliche Materialien und Medien erfordern einen anderen Ansatz. Man kann nicht sagen, dass die Betrachtung eines alten Caravaggio-Gemäldes in einer römischen Kirche das Gleiche ist wie die Betrachtung einer Performance von Bruce Naumann. Diese Werke wurden aus unterschiedlichen Gründen geschaffen. Aber ich finde es immer wieder schön, kleine Zusammenhänge zu erkennen. Wenn mich der Einsatz von Licht in einem zeitgenössischen Foto an das Licht in einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert erinnert, habe ich das Gefühl, dass es eine Verbindung in der Seele dieser Kunstwerke gibt, die man als Betrachter:in aufgreifen kann. Kunstwerke kommunizieren mit uns, aber auch miteinander. Das ist etwas Schönes, dieses Gefühl der Verbundenheit und Menschlichkeit über Zeit, Ort und Kultur hinweg, an dem wir teilhaben können, wenn wir ein Kunstwerk genießen.

Zu Wieteke van Zeils Instagram Account: @artpophistory

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